Fortsetzung von Knopfgeschichten Teil 1
„Ja da liegt er nun…“ wiederholte die Frau, der immer noch Tränen über die Wangen liefen. Auch Anna war total gerührt, obwohl sie doch eigentlich nicht sehr nah am Wasser gebaut war.
Mit zittrigen Händen legte die alte Dame den Knopf zurück in die Dose und schloss sie behutsam, so als wäre es ihre eigene kleine Schatztruhe. „Das war wirklich eine schöne Geschichte Frau Müller“, sagte Anna, während sie ihre Hand nahm. „Wir sehen uns dann ja morgen wieder, zur gewohnten Zeit“, setzte sie zu einer Verabschiedung an. Sie hätte gerne noch mehr aus Frau Müllers Leben erfahren, doch jetzt musste sie nach Hause, ihr Freund erwartete sie sicher schon sehnsüchtig, außerdem waren Frau Müller inzwischen die Augen zu gefallen. Vorsichtig schüttelte sie die Decke noch ein wenig auf und machte sich auf den Weg nach Hause.
Am nächsten Tag radelte sie fröhlicher als sonst zur Arbeit. Auch wenn einige Menschen es nicht nach vollziehen konnten, dass das Pflegen von alten Menschen sie erfüllte, hatte ihr ihre Arbeit schon immer viel Spaß bereitet. Doch heute war da noch etwas anderes, die Hoffnung auf eine neue Geschichte, die Hoffnung darauf einen neuen Teil aus Frau Müllers Leben kennenzulernen.
Nachdem sie mit den täglichen Pflichten zu Ende war, bat Frau Müller sie erneut sich zu ihr zu setzen. Anna war gespannt, von was Frau Müller heute erzählen würde. Mit langsamen Bewegungen griff sie zu der Knopfkiste auf dem Nachttisch. Heute nahm sie einen großen schwarzen Knopf heraus. Ihre Finger betasteten ihn als wollte sie herausfinden, ob es der Knopf war, den sie gesucht hatte.
„Es war der erste richtig kalte Tag des Jahres damals, Kind. Das kannst du dir kaum vorstellen! Nicht so schön warm wie heute, nein richtig kalt.“, während sie diese Worte sprach, fiel ein Sonnenschein durch das gekippte Fenster direkt auf ihre Hände. „Auch im Haus war es kalt. Wir hatten ja keine Zentralheizung oder fließend warmes Wasser… Nein, nein so einen Luxus den hatten wir nicht!“ Anna merkte, wie sie in eine andere Welt abtauchte, sie bekam sogar Gänsehaut bei dem Gedanken an die eisige Kälte. „Nur um den Ofen da war es immer schön warm. Jedenfalls schneite es und die Straßen waren bedeckt. Überall eine dünne Schneeschicht. Wir waren viele Kinder im Dorf. Für uns war es immer schön, wenn der erste Schnee fiel. Die Erwachsenen waren in Sorge, sie mussten genug Kohle und Holz finden. Wir aber rannten alle raus“. Ein Lächeln legte sich auf Frau Müllers Gesicht. Auch Anna hatte sich als Kind immer sehr über den ersten Schnee gefreut, es hatte etwas Magisches, wenn der Schnee scheinbar die ganze Welt bedeckte.
„Wir waren alle dick eingemummelt in die Wollpullover vom letzten Jahr, die schon ein wenig knapp saßen. Damals da gab es ja noch viele Kinder, wir waren zwölf Stück in nur vier Häusern. Nur Hans, mein Bruder, war nicht mit. Er hatte die Grippe. Dann haben wir die dünne Schneeschicht von überall zusammen gekratzt, es war mehr Schneeregen als dicke Flocken, und einen Schneemann für Hans gebaut. Mit so wenig Schnee war das gar nicht leicht, mein Kind!“ Frau Müller sah Anna an, um sich zu versichern, dass sie noch zuhörte. Anna saß immer noch gebannt neben ihr und blickte auf den Knopf. „Als wir Hans den Schneemann gezeigt haben, strahlte er und klatschte die Hände zusammen. Er war ja noch ganz klein und konnte kaum reden. Selbst der grade einmal ein Meter hohe Schneemann überragte ihn um Längen. Auch meine Eltern bewunderten ihn und vergaßen für einen Moment ihre Sorgen. Während wir zu zwölft vor der Türe standen, verschwand meine Mutter im Haus und holte etwas. Dann kam sie wieder mit diesem schwarzen Knopf.“ Wie zum Beweis hielt die alte Dame ihn hoch, fast so als suche sie letzte Schneereste in den Knopflöchern „Und dann setzte sie unserem Schneemann den Knopf mitten auf den Bauch. Vater zog ihm noch einen Zylinder auf, sodass er richtig vornehmen aussah, unser Schneemann.“
Anna sah die vielen glücklichen Kinder rund um den Schneemann genau vor sich. „Es musste sehr schön gewesen sein damals, mit so vielen Kindern!“, sagte sie und blickte die alte, immer noch strahlende Dame an. „Oh ja! Doch das Vergnügen hielt nicht lange. Am nächsten Morgen rannte ich raus und wollte sofort nach unserem neuen Freund sehen. Die Sonne schien richtig kräftig, und da wo der Schneemann war, lag nur noch Vaters Zylinder und darunter… dieser Knopf. Als Andenken an unseren eisigen Freund habe ich ihn zu mir genommen.“