„Kann ich sonst noch irgendetwas für sie tun?“, fragte sie die alte Dame, die vor Schmerzen gekrümmt im Bett lag. Sie kam jeden Tag um sie zu pflegen, und es bereitete ihr große Sorge zu sehen, wie es Frau Müller immer schlechter ging. Vor zwei Tagen war ihre Tochter zu Besuch gewesen und hatte ihr am Abend erzählt, dass ihre Mutter noch nicht einmal ihre Enkel erkannt hatte. Sie wusste nicht genau wieso, doch die alte Frau war ihr mehr ans Herz gewachsen als alle anderen, die sie bisher betreut hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie sie sehr an eine Nachbarin erinnerte, bei der sie als Kind öfter war, wenn ihre Mutter keine Zeit für sie hatte.

„Könnte sie mir die Kiste bringen? In der Kommode im Wohnzimmer in der zweiten Schublade … Bitte … nur die Kiste“ Anna ging Richtung Wohnzimmer. Sie fühlte sich alles andere als wohl dabei, in fremden Schränken zu kramen, doch sie wusste, dass Frau Müller ihr vertraute und wollte ihr den Wunsch erfüllen. Sie hatte keine Ahnung was in der Dose drin sein könnte, doch es musste Frau Müller sehr viel bedeuten, denn normalerweise gab es nie etwas, worum sie Anna bat. Sie wollte ihr so wenig zu Last fallen wie möglich und merkte wohl gar nicht, wie gerne Anna sich um sie kümmerte.

Die Dose war sehr alt und verstaubt. Doch unter der dicken Staubschicht erkannte man ein eingeschnitztes Muster. Es war wohl einmal viel Arbeit gewesen, eine solch feine Dose herzustellen. Die Dose war nicht besonders schwer und es mussten viele lose Teile darin sein, das merkte Anna, als sie mit der Dose in Richtung Schlafzimmer ging. „Hier ist die Dose. Das ist ja ein wahres Prachtstück!“, vorsichtig legte Anna die Dose in Frau Müllers Hände. „Oh ja das ist sie …“ Mit zittrigen Händen öffnete sie die Dose und es kamen viele verschiedene Knöpfe zum Vorschein.

Anna war irritiert. Was wollte die alte Frau mit Knöpfen? Vielleicht war ihr irgendwo ein Knopf verloren gegangen und sie sollte einen neuen annähen? Langsam nahm die alte Dame einen Knopf in die Hand und betastete ihn ganz sanft. Er war sehr klein und rosa. Während sie ihn berührte liefen ihr Tränen die Wangen hinunter. Anna wusste nicht, was sie sagen sollte, war es überhaupt angebracht etwas zu sagen?

„Setz dich doch zu mir, Kind“ sagte die Frau, und Anna setzte sich auf den Sessel neben dem Bett. Ohne Aufforderung begann die Frau zu reden. „Ich war neun Jahre alt, da habe ich diesen Knopf verloren. Ich weiß es noch ganz genau. Ich hatte das Kleid von meiner Mutter genäht bekommen, denn es war Karneval. Ich musste sie Wochen lang anbetteln, damit sie mir ein Prinzessinnenkleid nähte. Weißt du Kind, der Stoff war teuer damals, und wir hatten ja nicht viel!“ sie nahm Annas Hand.

„Bis zuletzt blieb sie stur. Sie meinte, ich sei ein verzogenes Kind, ich solle doch lieber als Geist gehen, sie habe bestimmt noch ein altes Bettlaken da. Doch dann, zwei Wochen vor dem großen Fest in der Schule, fiel ich vom Baum. Ja Kind, ich bin viel auf Bäumen geklettert, auch wenn man es mir heute nicht mehr ansieht“ sie grinste und sah Anna an. „So mit Computern und so, dass gab es ja alles noch nicht! Jedenfalls musste ich ins Krankenhaus. Ich bin heruntergefallen vom Baum und habe mir den Arm gebrochen. Meine Mutter war sehr besorgt. Sie machte sich Vorwürfe, nicht ordentlich auf mich aufgepasst zu haben. Sie war eine sehr fürsorgliche Frau. Einen Tag vor dem Schulfest, und ich hatte einen eingegipsten Arm! „Siehst du die Narbe?“ vorsichtig zog sie sich den Ärmel ihres Nachthemdes ein wenig hoch. Natürlich kannte Anna die Narbe. Sie wusch die alte Frau schließlich jeden Tag, doch nie hatte sie sich getraut zu fragen, wo sie herkam.

„Das ist von damals … Da kam sie rein, meine Mutter. Mit einem rosa Kleid, so etwas Schönes hast du noch nicht gesehen mein Kind. Nicht so etwas wie man es heute überall bekommt … ein wundervolles Kleid. Voller Sterne und Glitzer. Es hatte nur einen Ärmel. Denn mit diesem riesigen Gips wäre ich ja sonst auch nirgendwo hineingekommen!“ Anna schmunzelte, noch nie hatte Frau Müller ihr so viel von sich selbst erzählt. Sie war richtig gerührt und erstaunt, wie viel Frau Müller noch wusste. „In der Schule kam dann ein Junge zu mir, er neckte mich und nannte mich seine Prinzessin. Damals fand ich das gar nicht schön. Also haute ich ihn, und er zog an meinem Kleid, sodass dieser rosa Knopf abriss.“

Anna musste an ihre eigene Kindheit denken und lachte in sich hinein, als ihr klar wurde, dass sie als Kind ähnlich resistent gegen die Flirtversuche ihrer Mitschüler war. „Ich habe ihn erst nicht wieder gefunden und mich gar nicht getraut nach Hause zu gehen. Ich wollte nicht, das Mama sieht, das mein Kleid kaputtgegangen ist, wo sie sich doch so viel Arbeit gemacht hatte. Der Hunger trieb mich dann aber doch noch nach Hause, und ich hatte Glück, es war ihr gar nicht aufgefallen. Am nächsten Tag fand ich den Knopf auf dem Schulhof wieder und jetzt, jetzt ist er hier. Zwischen alle den anderen Knöpfen.“

Knopfgeschichten Teil 1

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