Als ich letztens das Tagebuch meines 12-jährigen Ichs gelesen habe, konnte ich nur den Kopf schütteln. Ein Urteil reihte sich an das nächste: „Lukas* ist total assozial!“ oder „Anja* ist eine Schlampe“. Nicht selten verwendete ich dabei Worte, die ich heute zum Glück aus meinem Wortschatz gestrichen habe. Scheinbar war ich rund um die Uhr damit beschäftigt meine Freunde oder Klassenkameraden zu bewerten. Was als pubertierende Jugendliche, die ihren Platz im Leben sucht, vielleicht noch normal ist, erlebe ich auch heute noch sehr oft in meiner Umgebung.
Immer wieder werten Menschen andere Menschen mit Bezeichnungen wie: „Der ist faul“, „Die ist dumm“ oder „Der ist fett“ ab, und ich frage mich wieso? Was bringt es mir mich ständig wertend über andere Personen auszulassen. Erstens gibt mir niemand das Recht über andere zu werten, da ich nicht in ihrer Haut stecke und nicht weiß wieso sie so handeln wie sie handeln und zweitens rauben all diese negativen Gedanken über andere Menschen am Ende doch nur eins: die eigene Energie.
Wieso lästern wir?
Vermutlich ist das Lästern oft eine Schutzmaßnahme. Schließlich ist es viel leichter zu sagen: „Anton ist doof“ als zu sagen: „Anton hat mich mit seiner Aussage verletzt.“ Dann müsste man sich ja seine eigene Verletzlichkeit zu gestehen. Doch am Ende des Tages wäre „Anton hat mich verletzt“ oder „Anton hat verletzende Worte verwendet“ doch die passendere Aussage. Denn sie bezieht sich auf die eine Situation, die mich zu meinem Urteil: „Anton ist doof“ geführt hat. Doch nur weil Anton verletzende Worte verwendet hat, muss er ja nicht doof sein. Anton ist vielleicht unachtsam mit seiner Sprache oder Anton hat seine Wut an mir ausgelassen oder Anton hat ein Problem mit mir, dass ich nicht ergründen kann. Vielleicht hat Anton seine Worte auch gar nicht böse gemeint. Dann könnte ich mich fragen: „Wieso glaube ich, das Anton mich mit seinen Worten verletzen wollte?“
Wer sich die Mühe macht, seine „Lästerei“ einmal genau zu hinterfragen, gerät auf völlig neue Wege. Eventuell wird nun der Kern sichtbar. Hinter den Worten: „Bor was hat der Nachbar denn schon wieder für ein fettes Poserauto“ steht am Ende vielleicht einfach nur Neid. Und wenn da Neid steht, dann kann man sich fragen: „Wie sind meine Wertevorstellungen, das ich auf ein teures Auto neidisch bin?“
Aber auch das Zusammengehörigkeitsgefühl, das durch Lästern entsteht sollte nicht unterschätzt werden. Der „gemeinsame Feind“ lässt selbst Menschen, die sonst nichts miteinander zu tun haben, zusammen wachsen.
Wie sich das Weltbild ohne Lästern verändert
Wenn jeder „doof“ ist, der bei Wer wird Millionär die 500-Euro-Frage falsch beantwortet, und jeder hässlich ist, der 5 kg zu viel auf den Rippen hat, dann sind wir plötzlich umgeben von ganz vielen blöden, hässlichen Menschen. Eine Welt die wir uns erfolgreich in unserem Kopf erschaffen haben. Wenn wir aber denken: „Oh Gott, der ist bestimmt total aufgeregt und weiß die Antwort nicht, das kann ich echt gut verstehen“ oder „Wow die (etwas kräftigere )Frau, hat total schöne Haare und ein super mitreißendes Lachen“ dann sind wir plötzlich umgeben von schönen, authentischen Menschen.
Die Geschichte von Hans
Hinzu kommt, dass wir uns durch das Lästern eine Chance verbauen einen Menschen wirklich kennen zu lernen. Ein Beispiel:
Ich lerne jemanden kennen, nennen wir ihn Hans. An dem Tag an dem ich Hans kennen lerne geht es Hans nicht gut. Er hatte total viel Stress auf der Arbeit, sein Auto hatte eine Panne und nun hat er es im letzten Moment noch auf den Geburtstag unseres gemeinsamen Freundes geschafft. Leider ist ihm nun auch noch das Geschenk hingefallen. Hans kommt in einer ziemlich geladenen Stimmung zu Geburtstagsfeier und ertränkt seinen Frust im Alkohol. Ich sehe nur wie Hans sich scheinbar grundlos besäuft. Ich kenne die Vorgeschichte von Hans nicht. Ich rede mit meinen Freundinnen über das „unmögliche Verhalten“ von Hans uns speichere ihn schnell als „Assi“ ab.
Nun sehe ich Hans nach ein paar Wochen wieder. In der Zwischenzeit habe ich noch ein paar mal an Hans gedacht. Nein. Ich habe nicht ein paar mal an Hans gedacht, sondern an den „Assi“ von der Party. Denn so hat mein Gehirn ihn dank ausreichend Lästern abgespeichert. Beim zweiten Treffen kann sich Hans noch so viel anstrengen. Mein Gehirn hat die Datenautobahnen schon verlegt. Hans ist der Assi.
Was wäre passiert, wenn ich von vorneherein anders über Hans gedacht und geredet hätte?
Ich sehe Hans das erste mal auf der Party. Hans scheint nicht gut drauf zu sein und betrinkt sich. Ich denke vielleicht: „Oh Hans scheint Probleme zu haben“ oder „Schade das Hans sich direkt betrinkt, ich hätte ihn gerne noch kennen gelernt.“ Hans ist an diesem Abend kein Gesprächsthema bei meinen Freundinnen und mir. Wir haben einen schönen Abend.
Ein paar Wochen später sehe ich Hans wieder. Jetzt denke ich wirklich: „Ah da ist ja Hans“. Ich gehe auf ihn zu und beginne eine vorurteilsfreie Kommunikation.
Wie uns das neue Weltbild hilft
Am Ende hilft dieses „schöne Weltbild“ vor allem uns selbst. Wir gehen positiver auf andere Menschen zu, und werden dadurch oft auch positiver aufgenommen. Außerdem kann die positive Einstellung anderen gegenüber auch zu einer positiveren Einstellung sich selbst gegenüber führen. Schließlich bin ich nun nicht mehr die fehlerlose Queen die sich über andere erhebt, sondern ein ganz normaler Mensch mit Ecken und Kanten so wie alle anderen Menschen auch.
*Namen sind geändert